kano Siegen. Die intensive Sonne bringt
eine Vorahnung der Karibik. Bei 24,5° Celsius Wassertemperatur
ist das Duschen an Deck mit dem Eimer Meerwasser eine Wonne. Die
Vorräte gehen zwar langsam zur Neige, aber die Improvisation
zaubert allabendlich neue Gerichte auf die Teller. Jetzt fiebern
sie der Ankunft in Rodney Bay auf St. Lucia entgegen. Aber ein
wenig Wehmut wird wohl dabei sein, wenn die Crew der "Carpe Diem"
das Schiff verlässt.
Mit dem lauten Kanonenschuss einer
Kriegsfregatte war sie im November los gegangen: die »Atlantic
Raily for Cruisers» (ARC). Der Siegener Dirk Müller, 42-jähriger
Skipper der "Carpe Diem", hatte gemeinsam mit seiner
sechsköpfigen Crew, seinen 15 Meter langen Fahrtensegler bereits einige
Wochen vor dem Start auf die Atlantiküberquerung vorbereitet (die
SZ berichtete). Rund 250 Schiffe aller Nationen hatten sich in
der Marina von Las Palmas auf Gran Canaria eingefunden, um
Takelagen zu überprüfen, Schiffsrümpfe zu reinigen, Segel zu
überprüfen und an der Bar allabendlich Anekdoten auszutauschen.
»Land, Land!" schreit nun die Deckwache, und
tatsächlich sind 20 Seemeilen entfernt schon die roten Lichter
eines Radiomastes von St. Lucia zu sehen. Das Regattafieber hat
die Crew der "Carpe Diem" wieder gepackt. Eine fremde Jacht kommt schnell von hinten auf. Es ist 10 Uhr vormittags,
und noch hat die "Carpe Diem" die "Nachtbeseglung" gesetzt. Die
Männer setzen die Großsegel, versuchen "Schmetterling" zu segeln
und rauschen endlich mit akzeptabler Geschwindigkeit durch die
aufgewühlte Atlantikwelle. Sie verkaufen sich teuer!
Die "Carpe Diem" muss immer "höher an den
Wind", um das nördliche Cap von St. Lucia zu umrunden und Kurs
auf die Ziellinie zu nehmen, die in der trichterförmigen Rodney
Bay liegt. Die sieben Segler können das Zielschiff schon sehen.
Die Jacht, die sie überholt hat, kämpft sich kreuzend zur
Ziellinie hoch. Diese zu erreichen, entpuppt sich als ein äußerst
schwieriges Unterfangen: Sie will partout nicht näher rücken,
denn die Mannschaft der "Carpe Diem" muss gegen den Wind
aufkreuzen. Nach unzähligen Wendemanövern — mit einem
Kutterstagsegel kurz hinter dem Vorstag ist die "Carpe Diem"
nicht für die Wendeduelle in der immer schmaler werdenden Bucht
geeignet — hat das Zielschiff Erbarmen. Es drückt auf die
Signalhupe. Dreimal tutet es, und die "Carpe Diem" läuft als 160.
von 250 Segelschiffen in den Lagunenhafen von St. Lucia ein. Eine
beachtliche Position, da unter den Teilnehmern viele Renn-Yachten
waren. Ein Fotografenboot umkreist die "Carpe Diem", während sich
die Männer beglück- wünschen.
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Am Steg empfängt sie der Applaus der
Nachbarschiffe, und der Reggae dröhnt mit an die "Love-Parade"
erinnernder Lautstärke. Als ihnen eine ARC-Delegation die Leinen
abnimmt und einem Tablett voller Rum-Punch, frischen Früchten und
einer Flasche Rum begrüßt, sind sie "perplex" über soviel
herzlichen Empfang. Als die Männer zum ersten Mal den Fuß an Land
setzen, wissen sie nicht, ob es der Rum-Punsch oder der ungewohnt
feste Boden ist, der sie sie schwanken lässt. Aber: Sie sind am
Ziel! Und dies als eines der wenigen Segelschiffe, das keine
größeren Schäden hat.
Allerdings hatten auch die sieben Segler der
"Carpe Diem" - Skipper Dirk Müller, Co-Skipper Ekkehardt Herbst,
Crew Mitglied Michael Baumann, Thilo Winter, Philipp Petersson
Lothar Barkei und Heimar Pischel - mit der Unberechenbarkeit der
See zu kämpfen. Bereits in einer der ersten Nächte passierte das
Schlimmste: Eine gefürchtete Sturmböe, eine so genannte Sqall,
erfasst den Fahrtensegler. Vom Masttop bricht die Verankerung
eines der Segel. Ein Crewmitglied muss bei schwerer See
hinaufgezogen werden und kann die Befestigung notdürftig
reparieren. Dann liegt die "Carpe Diem" wieder auf Kurs.
Nach anfänglichen Kämpfen der Männer gegen die
Seekrankheit übernimmt eine gewisse Routine das Tagesgeschehen.
Der Name des Schiffes ist Programm: "Carpe Diem", "Nutze den Tag"
-die Crew nutzt die Zeit, um sich an Wellen und Wetter
anzupassen. Viel Platz bietet sich nicht für die sieben Segler,
aber sie arrangieren sich. Wachdienste werden eingeteilt, das
Kochen übernimmt täglich ein anderer.
Das Segelfieber hat sie alle gepackt. Ein
unbeschreibliches Faszination sind die Weiten, das Blau und die
Nähe zum Himmel. Delphine begleiten die "Carpe Diem" westwärts.
Fliegende Fische bieten einen lustigen Anblick und landen hin und
wieder sogar an Deck. Und so manch ein Sonnenuntergang verschlägt
allen schier die Sprache. Für die sieben Segler geht ein Traum in
Erfüllung: Wenn sie in St. Lucia anlegen, können sie sich als
"Atlantikbezwinger" rühmen.
Für Skipper Dirk Müller war die ARC allerdings
nur der Anfang. Die Segelregatta war die erste Etappe zur großen
Weltumseglung, die er von St. Lucia aus mit seiner Ehefrau Heike
und den beiden Töchter Naomi (9) und Tamina (6) fortsetzen wird.
Zur Zeit befinden sie sich bereits auf Martinique. Nächstes Ziel
ist Mitte Februar der Karneval in Trinidad und anschließend die
"Antigua sailing week" Mitte April. In der Zwischenzeit werden
die Vier schnorchelnd und tauchend die Tobago Bay und deren
Umgebung erkunden. Und im Siegerland regnet es...
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